Es war ein Traum, ein düsterer Traum, der das junge Mädchen aufschrecken ließ. Schweißgebadet versuchte es, sich zu erinnern, aber die Stille der Nacht verschluckte jede aufkeimende Erinnerung. Seit Tagen, ja, seit Wochen schon durchlebte Magdalena fast jede Nacht eine unwirkliche Szenerie. Sie war zwar der Schrift nicht mächtig, um diese aufkommenden Bilder festhalten zu können, aber sie hatte ein scharfes Gedächtnis, das ihre Gedanken einfing und gut darauf aufpasste. Diese Gedanken waren so düster wie der Ort, an dem sie sich und ihre Familie seit mehreren Monaten versteckt hielt. Durch Wolfhard hatten sie Zuflucht gefunden in dieser alten Mühle vor den Stadtmauern von Wesel, als die Ernte zu Ende ging. Magdalena war die jüngste Tochter und verstand nicht, warum sie ihr schönes Haus mitten in Münster verlassen mussten, um in die fremde Einsamkeit des Niederrheins zu ziehen. Bei Nacht und Nebel, völlig unerwartet und ohne ihren Hausstand. Nur ihr Vater hatte sein Werkzeug eingepackt und Mutter das Wenige an Kleidung, was sie in ihrem Korb tragen konnte. In den anderen Taschen hatten sie etwas Geschirr und vier Pfund frisches Brot, etwas Öl und eine Seite Speck. Die beiden Söhne, Jakob und Walther, trugen das eingeschnürte Bettzeug, während Magdalena das in Nesselbahnen eingewickelte Holzkreuz vor sich hertrug. Zum Glück musste Elisabeth, die älteste Tochter, das nicht mehr erleben. Sie war gut mit Wolfhard, dem Kaufmannssohn aus der Hansestadt Wesel, verheiratet. Sie flohen vor dem, was ihnen verbot, anders zu sein. Was wie gierige Wölfe an jeder Straßenkreuzung auf sie lauerte, um sie in das ewige Feuer zu stürzen. Magdalena hatte einmal gehört, wie die alte Walburga ihrer Mutter gegenüber erzählte, dass alle, die der Kirche abschwören und sich dem jungen Luther anschließen würden, mitsamt ihrem Hab und Gut ins Fegefeuer geworfen werden. Das junge Mädchen war sich mit ihren zwölf Jahren sicher, irgendwo zwischen den Weiden, tief unten am grünen Ufer des Rheins musste es sein – das Fegefeuer.
***
Wie wird man ein Mönch? Dieser Gedanken ließ ihn seit jenem Abend nicht mehr los. Hatte er nicht alles getan, was von ihm verlangt wurde? War er nicht entschlossen genug gewesen, als sich die schweren Eichentüren an jenem Frühlingsmorgen im April 1519 hinter ihm schlossen, die ihn für immer von seiner Familie trennten?
„Ich bin seit meiner Geburt ein Mönch“, flüsterte er leise vor sich hin, um die Einsamkeit ertragen zu können.
„Ich weiß“, kam eine überraschende Antwort und der Junge traute sich nicht aufzublicken, um zu schauen, woher diese Worte kamen.
„Ich liebe meinen Herrn Jesus Christus mehr, als alle vergänglichen und unvergänglichen Güter.“
„Ich weiß“, ertönte es abermals mit einer leisen, aber doch klaren Stimme zu ihm herüber.
„Ich bin ein Pfand Gottes“, wurde er schlagartig laut und seine Tränen erstickten seine Worte.
„So ist es“, flüsterte ihm die Stimme zu, die so scharf wie ein Messer durch seinen Körper drang.
„Ich bin ein Pfand Gottes“, dröhnte es durch die nächtliche Stille des Herrenchores und noch ehe er nach dem Bruder suchen konnte, der ihm antworten sollte, kam der Abt selbst und nahm ihn mit hinaus auf den dunklen Gang.
„Glaubt mir doch, Bruder, einer von ihnen hat mir geantwortet.“
„Niemand von ihnen hat gesprochen, nur du selbst.“
„Das stimmt nicht! Ich habe ihn doch klar und deutlich hören können.“
„Niemand spricht während der Vigil. Nicht einmal ich würde es wagen. Ich weiß nicht, was du gehört hast, aber es war keiner von uns.“
Sprachlos sank Benedict in sich zusammen. Es hatte keinen Sinn auf etwas zu bestehen, was Zweifel hervorrief. Doch er konnte nicht anders.
„Ich bin wirklich sein Pfand. Ich habe es am eigenen Körper gespürt. Nicht nur meine Ohren haben es gehört, mein ganzer Körper hat es vernommen. Wie ein wütendes Feuer, das ...“
„Da war nichts. Geh’, verlass diesenOrt. Du bist entschuldigt bis zur Morgenmette.“
„Ja, Bruder Michael.“
Am Ufer des Flusses entdeckte Walther im Frühjahr 1522 einen Ring von merkwürdiger Form und Schönheit. Die Sonnenstrahlen schienen in ihm gefangen zu sein. Vorsichtig drehte er ihn hin und her und berührte seine glatte Oberfläche.
„Was hast du da?“
„Nichts.“
„Komm’, zeig’ her.“
„Nein!“
Walthers Stimme tobte wie ein Donnerschlag durch die Rheinaue und Magdalena erschrak.
„Ich wollte doch nur sehen, was du da gefunden hast.“
„Das gehört mir und geht dich nichts an. Das ist reine Männersache.“
Männersache – wie oft schon hatte sie das in den letzten Monaten gehört, seitdem sie hier an der Rheinbiegung eine neue Heimat gefunden hatten. Der Frühling lag bereits in der Luft, als sie müde und erschöpft nach den dunklen Wintermonaten anfingen, die alte Lipp’sche Mühle zu reparieren. Vater hatte Walther und Jakob in das Handwerk eingeführt, sie waren seine Lehrlinge geworden. Elisabeth, die älteste Tochter, war mit einem Kaufmannsohn aus Wesel verheiratet, der in der Lage war, ihnen allen Zuflucht in der alten Mühle zu gewähren, als sie im Herbst des Vorjahres aus Münster fliehen mussten. Nur Magdalena lebte still in sich zurückgezogen, in einer Welt, in der sie niemandem Einlass gewährte. Die ersten Freier, die letztes Jahr auf sie aufmerksam wurden, vergraulte sie mit ihrer Trübsinnigkeit und ihren Albträumen. Sie schien sich nichts aus jungen Männern zu machen, ging jedem Fest aus dem Weg und war nicht einmal zur Hochzeit ihrer Schwester mitgekommen. Das beunruhigte nicht nur Vater Jacob, sondern auch ihre beiden Brüder. Nur Hilda, ihre Mutter, ließ sich nicht davon abbringen, dass mit ihrer jüngsten Tochter alles in Ordnung war.
„Lasst sie. Magda braucht Zeit, um zu sich selber zu finden. Ich werde mit ihr zu den barmherzigen Schwestern ...“
„Einen Teufel wirst du tun! Wenn du dich wagst, in diese Pfaffenhöhle zu gehen, dann brauchst du nie wieder einen Schritt in dieses Haus zu machen.“
Hilda schluckte und wandte sich ab, damit ihr Mann die Tränen nicht sehen sollte, die in ihren Augen aufstiegen. Sie kannte ihre Tochter gut genug, um zu wissen, welchen Wunsch sie im Herzen trug. Schreiben und Lesen wollte
sie lernen. Mehr nicht. Darin lag alles, was sie sich wünschte. Doch der Gram zog in ihr ein, als sie die Ausweglosigkeit entdeckte. Er legte sich von Zeit zu Zeit wie ein dünner Schleier über ihr marmorfarbenes Gesicht und ließ jedem den Atem still stehen, der sie sah. Ihr dunkles Haar versteckte sie unter einer Haube aus feinen Linnen, die mit zarten Stickereien versehen war. Ihre braunen Augen schlug sie nieder, wenn sie den Blicken nicht ausweichen konnte, die auf sie gerichtet waren und ihr zarter Mund ließ selten ein Lächeln zu, was dem ganzen Gesicht etwas Geheimnisvolles gab.
In der Umgebung nannte man sie nur das traurige Mädchen. Keiner wusste, warum sie nie lachte und wenn sie es doch einmal tat, dann verzog sie nur kurz ihre Mundwinkel und versteinerte danach wieder zu einer Statue.
„Bitte, zeig’ mir den Ring.“
Walther drehte sich kurz um und griff erneut in seine Hosentasche.
„Woher weißt du’s? Hast du das etwa wieder in einem deiner Träume gesehen?“
Der schneidende Sarkasmus tat weh und Magdalenas Augen fingen an zu funkeln. Walther grinste frech.
„Wenn ich das Vater erzähle, dann wird er toben, das versprech’ ich dir und Mutter wird wieder einen Anfall bekommen“, lachte Walther laut auf.
„Nichts wirst du erzählen, hörst du. Gar nichts. Ich hatte keinen Traum. Ich, ... ich habe nur etwas funkeln sehen in deiner Hand, es sah aus wie ein Ring.“
„Aber Ringe funkeln nicht!“
Und schon bückte er sich. Hob einen Kieselstein vom Flussufer auf, um ihn danach gleich über das glatte Wasser zu schleudern.
„Also, woher weißt du es? Los, sag’ es mir.“
Mit einer raschen Bewegung sprang er auf seine Schwester zu und zog sie näher zu sich, um in ihre ängstlichen Augen sehen zu können.
„Du bist ein Teufel“, flüsterte sie und Walther spürte ihre aufkommende Panik.
„Und du eine Hexe“, keuchte er hämisch, bevor er sie in den steinigen Sandstreifen stieß.
Es war bereits dunkel und die dritte Nachtstunde nahte, als Magdalena in die Mühle kam. Mutter hatte die kleine Öllampe in der Küche schon angezündet und es roch nach Essen, als sie die Tür aufmachte.
„Wo warst du, Kind? Wir haben uns alle Sorgen um dich gemacht.“
Die Sorge hatte sich in ihr müdes Gesicht gefressen.
„Ich war unten am Fluss, habe nach den Deichen geschaut, ob sie noch halten. Es scheint, als wenn wir Hochwasser bekommen.“
„Ah, unsere weise Frau hatte wieder eine Erleuchtung!“
„Sei still, Walther. Lass das Vater nicht hören.“
„Oder ist unser Schwesterherz doch verrückt? Die Leute hier fragen sich auch langsam, was mit unserer Schönen los ist.“
Walthers hämischer Blick richtete sich auf Magdalena, die sich an den warmen Ofen gesetzt hatte und langsam eine Schüssel mit heißem Gemüsebrei auslöffelte. Sie brachte, ebenso wie ihre Mutter, kein einziges Wort heraus und versuchte, sich auf die fette Brühe mit den zarten Lauchscheiben zu konzentrieren, in die Mutter das schwarze Brot hineingetunkt hatte. Es tat gut, wie der heiße Brei die Kehle hinunterlief und im Magen für ein wohliges Gefühl sorgte, das die Umgebung vergessen ließ.
Deutlich erinnerte sie sich an den Traum, den sie vor drei Nächten hatte, als sie barfuß in einen hellen Fluss gestiegen war, um einen glänzenden Ring herauszuholen. „Bring ihn zu mir“, hatte ein Mann gerufen und auf den silbernen Reif in ihrer Hand gedeutet, der sich so warm anfühlte, wie pures Sonnenlicht. Als sie ihn schließlich ins Sonnenlicht hielt, glaubte sie die Quelle aller Farben entdeckt zu haben. Doch plötzlich erschrak sie. Sobald sich das Wasser verfinsterte, verdunkelte sich auch der Stein, der in dem Ring eingefasst war. Dann war es nicht mehr ein junges Gesicht, das sie anlächelte, sondern ein bösartiger Blick. Feuer loderte aus den Augen des alten Mannes und im gleichen Augenblick fühlte sie einen brennenden Schmerz durch ihren Körper rasen.
Sofort kam ihr wieder der Ring in den Sinn, den ihr Bruder in der rechten Hosentasche verborgen hielt. Wie konnte sie an ihn herankommen, ohne dass er es merkte? Sie wollte ihn doch nur einmal anschauen, ihn ins Licht halten und überprüfen, ob es wirklich jener war, von dem sie geträumt hatte.
„Vater kommt später“, krächzte Jakob, als er ein langes Brett durch die Eingangstür schob, das er neben Magdalena an den Balken stellte, an dem die Holzlöffel hingen.
„Ah, Brennholz für die Nacht.“
Jakob überhörte die Sticheleien seines älteren Bruders und warf seinen aufgekrempelten Filzhut in die Ecke.
„Es riecht gut, ist noch was übrig? Ich habe einen Bärenhunger.“
„Brennholz? Das hast du gut hinbekommen, Jakob. Sehr gut sogar, ich bin stolz auf dich.“
Hilda tätschelte ihrem jüngsten Sohn über seine blonden Locken und warf ihm einen Blick des Stolzes und der Anerkennung zu.
„Vater bringt noch die Tischbeine mit.“
Hastig stopfte sich Jakob ein Stück Brot in den Mund, bevor er die Schüssel mit dem dünnen Brei ausschlürfte.
„Und? Hast du was gehört?“
Hilda schüttelte den Kopf. Auch Magdalena hatte ihren Bruder fragen hören
und verneinte ebenfalls. Seit den Herbststürmen schon plagte sie die Ungewissheit, ob es Günther überhaupt bis in den Süden geschafft hatte. Seit Weihnachten mochte niemand mehr darüber nachdenken, ob er überhaupt noch am Leben war.„Der heilige Günther ist tot, die Pfaffen haben ihn längst erwischt und auf den Scheiterhaufen ...“
„Schweig, sprich nie wieder in dieser Art über deinen Bruder! Günther lebt, ich weiß es, ich spüre das!“
Hildas Stimme donnerte durch die winzige Mühle und selbst der bullige Walther zog sich erschrocken zurück und verzichtete auf eine weitere Auseinandersetzung mit seiner Mutter.
Seit einem knappen Jahr hatten Jacob und seine Frau Hilda nichts von ihrem ältesten Sohn gehört. In der Hansestadt Wesel, direkt am Niederrhein, hatten sie zwar nach Günthers Flucht aus Münster eine neue Heimat gefunden, dennoch lebten sie außerhalb der Stadtmauern wie Fremde. Der neue Fürst von Jülich war noch nicht einschätzbar. Keiner wusste, wie er sich Fremden gegenüber verhielt. Auch galt weiter das Verbot, Bruder Martin in jeglicher Weise zu unterstützen. Jacob hatte vor einigen Jahren von den Thesen aus Wittenberg gehört und war fest davon überzeugt, durch Martin Luther würde endlich ein religiöser Neubeginn stattfinden, den gerade das einfache Volk so lange schon herbeigesehnt hatte. Doch er ahnte auch, dieser Luther war im Herzen ein katholischer Mönch geblieben. Das brachte Zweifel in sein eigenes Herz, so gerne er sich der neuen Sache verschrieben hätte.
Er war sich nicht mehr sicher, ob es überhaupt einen Sinn machte, sich weiter heimlich jeden Freitag in der Woche mit den Augustinermönchen in der alten Waldschänke zu treffen. Doch dann dachte er an seinen ältesten Sohn, was er auf sich genommen hatte, um seiner Überzeugung zu folgen.
Hilda war da eher zurückhaltender in ihrer Meinung. Sie liebte ihren Ehemann und ihre Kinder, sie liebte aber auch Gott und die Kirche. Geduldig ertrug sie jede Bürde, die ihr auferlegt wurde. Auch, dass sie nicht mehr zu den barmherzigen Schwestern durfte, wo sie etwas Lesen und Schreiben gelernt hatte.
Günther lebt – drang es erneut durch ihre müden Gedanken. Sie versuchte, die Spannung unter ihren Kindern zu überspielen.
„Walther, hol’ frisches Wasser und hilf mir in der Küche.“
„Das ist Weiberarbeit, schick’ Magda, sie ist nämlich schon wieder am Träumen.“
Walther grinste und zog wilde Grimassen hinter dem Rücken seiner Mutter. Er verdrehte seine grünen schmalen Augen und zog den Mund so breit wie ein Karpfenmaul. Sein Bruder Jakob drehte sich kurz um und schüttelte den Kopf.
Der Galgenbuck, Seite 7 ff