Die Welt geriet immer weiter aus den Fugen.
Das Leben schien vollkommen dem Untergang geweiht zu sein. Es war ein lauer Herbsttag, als plötzlich ein Mann mit schwerem Mantel vor der Haustür stand. Leonora, die unterwegs war, um etwas Essbares zu besorgen, rechnete nicht damit, vor dem Abendessen wieder zu Hause zu sein. Nur die alte Schneidermeisterin war an diesem Nachmittag im Haus. Neugierig lief sie die Holztreppen hinab.
„Frau Pawel ist nicht im Haus. Kann ich etwas ausrichten.“
Der Mann trat einen Schritt näher.
„Bitte richten sie ihr aus, dass ihr Ehemann wieder seinen Dienst aufgenommen hat. Sie erreicht mich unter dieser Telefonnummer.“
Die alte Frau sah erschrocken auf den abgegriffenen Zettel.
„Ein Telefon gibt es nicht mehr im Haus seit …“
Ihr fehlten die Worte.
Natürlich hatte sie von Johann Pawel gehört.
Das Bild von ihm stand mittlerweile auf der Anrichte in der guten Stube und ab und zu kam auch ein Brief von ihm, so erzählten es zumindest die Kinder. Aber das hier konnte unmöglich - es war unmöglich. Dieser Mann war auf keinen Fall Leonoras Mann!
Ohne ein Wort verließ der Fremde das Grundstück und kehrte zu seinem Wagen zurück, der oben an der Straße stand.
Die alte Frau konnte kaum erwarten, bis Leonora aus der Stadt kam und erzählte ihr gleich, was sich zugetragen hatte. Diese schnappte sich ein paar Münzen und rannte völlig aufgelöst den Damm hinunter bis zur Kreuzung, wo es ein Kaffeegeschäft gab. Mit zittriger Hand versuchte sie die Nummer zu wählen, die fast unleserlich vor ihren Augen verschwamm. Sie brauchte eine Zeit lang, um zu begreifen, was passiert war. Es gab keinen Zweifel: Johann war noch am Leben und er war wieder in Stutthof.
Während das Foto und die Briefe sorgsam auf dem Dachboden verstaut wurden, bereitete man sich auf den großen Tag der Wiederkehr vor. Maria kochte, was die Lebensmittelkarten alles hergaben, und die Kinder zogen ihre Sonntagskleidung an. Auch Leonora versuchte sich in ihr altes Festtagskleid hineinzupressen, aber seit Marlenes Geburt waren ihre Hüften rundlicher und der kleine Bauch unübersehbar.
„Hier, nimm die Schürze. Damit fällt es nicht so auf, wie eng du dein Korsett wieder mal geschnürt hast.“
Maria war müde geworden. Sie wusste selber nicht, was sie von der plötzlichen Rückkehr ihres Schwiegersohnes halten sollte. Erst glaubten alle, er sei tot, dann plötzlich stand er lebendig vor der Tür. Er hatte auch großzügig 200 Reichsmark bringen lassen, dazu ein Paket mit Kaffee, Wurstkonserven und Zuckerkram für die Kinder. Es war fast wie Weihnachten, mitten im Oktober. Jetzt war der große Besuch angesagt. Die Aufregung stand jedem förmlich ins Gesicht geschrieben.
Manfred, der älteste von den Jungen, stand mit seinen jungen Jahren der ganzen Sache eher kritisch gegenüber. Er hatte Angst vor dieser Begegnung und konnte nicht einmal erklären wieso. Ebenso ging es Wolfgang, Wilmar, Edwin, Paul und sogar Ulf. Nur die beiden Jüngsten schien die Aufregung nicht zu stören. Sie knabberten an den Keksen und freuten sich auf das gute Essen, das man im ganzen Haus riechen konnte.
Dann kam der besondere Augenblick, als der schwarze Wagen über den Damm sichtbar näher kam und schließlich an der alten Brücke parkte, bevor es runter zum Leege Tor ging, wo die Wohnhäuser standen.
„Ist das Vaters Wagen?“
Manfred war der erste, der sich traute die Stille zu durchbrechen. Ohne zu antworten, sah jetzt auch Leonora durch das Küchenfenster, wie sich zwei Männer in schwarzer Uniform dem Gartentor näherten.
„Gott sei uns gnädig“, flüsterte sie, bevor sie Marlene vom Fenster wegzog, um ihr den Schokoladenmund abzuwischen. Auch Maria von Olschewik war sichtlich nervös und verschwand hinter den Töpfen, in denen das Fleisch kochte.
„Muttchen, wer sind die Männer? Kommen die zu uns?“
Edwin drängelte sich zwischen seine großen Brüder und verfolgte das Geschehen von der Fensterbank aus.
Gleich würden sie das Tor öffnen.
Zuerst der Große, dieser hielt das Tor für den kleineren Mann auf, dann würden beide an die Haustür kommen und dann …
Was dann folgte, schien aus einem Theaterstück entsprungen zu sein.
Graziös warf sich Leonora wie eine treu liebende Ehefrau an den Hals ihres Gatten, noch ehe er begriff, was um ihn herum passierte. Dabei interessierte es sie kaum, ob sein Begleiter Schmitz oder Meier hieß, der sich galant vorstellte und dann ins Abseits geschoben wurde. Er fuhr den schweren Wagen, der sich schnell als Dienstwagen herausstellte und in dem die Jungs einer nach dem anderen verschwanden, um eine kleine Spritztour durch die Bastion zu machen. Nur Maria blieb schweigend zurück und schaute sich das Schauspiel über ihre Brillengläser an. Sein Gesicht hatte sich verändert, seine Augen waren starr geworden, ohne Leben. Er war kleiner geworden, geschrumpft, wirkte aufgedunsen und seltsam gereizt.
„Mein Leben hat sich verändert, Leonora.“
Damit legte er erneut 200 Reichsmark auf den Tisch und holte zwei Päckchen Zigaretten aus seiner Manteltasche.
„Wo hast du das viele Geld her?“
Hastig griff die junge Mutter nach den Geldscheinen und ließ sie irgendwo in ihrer Schürze verschwinden. Johann versuchte zu lächeln, aber es war nur ein kurzer Anflug, der seine Gesichtsmuskeln bewegte. Er sah gut aus. Leonora entging nichts.
„Ehre heißt Treue.“
„Ich weiß“, entgegnete die junge Frau sofort und schenkte ihm eine Tasse von dem dünnen Bohnenkaffee ein, den sie für diesen Anlass aufgehoben hatte.
Sie konnte sich noch lebhaft an die schwere Gürtelschnalle erinnern, die den doppelreihigen langen Militärmantel zusammenhielt. Jetzt hatte er den Helm gegen eine Schirmmütze getauscht und auf dem rechten Kragenspiegel blitzte ihr ein Totenkopf entgegen.
„Die Kinder sind groß geworden. Ich habe Marlene gar nicht mehr wiedererkannt.“
„Du warst auch lange nicht zu Hause.“
Leonora schluckte, als hätte sie etwas Verbotenes von sich gegeben, etwas, worüber niemand sprechen durfte. Es war unüberlegt jetzt in der Endphase des Krieges von einem Zuhause zu sprechen oder ihrem Mann das Gefühl zu geben, er habe Fehler gemacht. Doch die Realität war grausam.
Es gab kein Zuhause mehr.
Wohnungen wurden konfisziert, Menschen waren über Nacht spurlos aus ihren Häusern verschwunden. Kinder wurden als Waisen zurückgelassen, einige flohen bereits in den Westen. Für einen Bruchteil einer Sekunde musste sie an Walter, den Marineoffizier, denken, der sie angefleht hatte, mit den Kindern Danzig zu verlassen. Sie schrieben sich heimlich, so gut es ging, hatten in den jeweils anderen einen Seelenverwandten gefunden, der ohne viel Worte verstand, wonach sich das Herz sehnte. Die große Entfernung erlaubte das Sichöffnen dem anderen gegenüber, drohte doch keine Gefahr mehr, so dachte zumindest Leonora in ihrem naiven Leichtsinn.
„Schön, dass du das gemerkt hast.“
Johann stand auf und seine Augen wanderten durch die Wohnung.
„Du hast die anderen Zimmer vermietet?“
Trotzig verschränkte die junge Mutter ihre Arme und starrte auf das Kaffeegedeck, das vor ihr auf dem runden Wohnzimmertisch stand. Sie wusste, dass er dagegen war, das große Haus mit fremden Menschen zu teilen. Sie fühlte sich in einem Zwiespalt.
„Ich hatte keine andere Wahl. Das Geld war knapp.“
Im Vorbeigehen entdeckte er die Perlenkette, die sie vergessen hatte abzulegen.
„Sicher doch, es gab nur einen eingeschränkten Sold, aber zum Überleben hat es ja wohl doch noch gereicht.“
Johanns Stimme klang auf einmal fremd.
Wie hasste Leonora diese Gespräche!
Sie musste aufpassen, was sie jetzt sagte. Jedes Wort konnte eine Explosion hervorrufen.
„Warum hast du mir nicht geschrieben? Niemand wusste was los war. Bei der Kommandantur hatte man mich vollkommen im Unklaren gelassen.“
Der kleine Mann in seiner dunklen Uniform stand jetzt am Fenster und sah hinunter in den Garten, wo Marlene und Waltram spielten. Längst war der Kaffee kalt geworden und die Luft stickig.
„Ich habe nicht viel Zeit. Ich wollte dich wenigstens noch einmal sehen, dich und die Kinder.“
„Bleibst du nicht?“
Ihre Blicke kreuzten sich für einen kurzen Augenblick.
„Ich bin jetzt Oberscharführer, zuständig für die Wachmannschaft. Das Geld, das dir alle 14 Tage geschickt wird, ist für dich und die Kinder. Ich habe einen Kameraden beauftragt, dir ab und zu ein Lebensmittelpaket vorbeizubringen. Es wird nicht viel sein. Bitte versuche von dem Geld etwas zu sparen, falls …“
Johann räusperte sich und wirkte unbeholfen.
„Falls wir Danzig verlassen müssen?“
Der kleine Mann nickte und wandte sich wieder den spielenden Kindern draußen zu. Die aufkommende Stille erlaubte nur noch das Ticken der Wanduhr. Vom Hof her hörte man die Kinderstimmen, wie sie sich langsam dem Hauseingang näherten.
„Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du dich auch um meinen Vater kümmern könntest. Er hat sonst niemanden mehr. Und du weißt, auf meinen Bruder und meine Schwägerin ist kein Verlass.“
Leonora war entgangen, dass der alte August immer noch in dem schäbigen Mietshaus am Hafen wohnte und nur noch sein Sohn Erich mit seiner Frau dort lebten. Hans war tot, gleich 1940 irgendwo in der Fremde gefallen, seine Schwester war mit einem Polen durchgebrannt und Hannah lebte jetzt in Lübeck bei Verwandten, nachdem ihre Ehe mit einem Kommunisten annulliert worden war, was sie in den Wahnsinn getrieben hatte. Der Rest der Familie hatte Karriere gemacht, wie man sehen konnte.
„Und was wird aus mir? Hast du nur einen Augenblick darüber nachgedacht, wie es mir bei der ganzen Sache geht? Ich bin längst tot, lebe nur noch für meine Kinder. Leo hier und Leo da. Du musst dich um den alten Mann kümmern, Kindchen. Die alte Frau braucht deine Hilfe. Besorg‘ Essensmarken, versorge den Krüppel, helf‘ hier, helf‘ dort. Ich will das alles nicht mehr! Johann Pawel, ich will das alles nicht mehr. Ich scheiß was auf diesen Orden, ich verfluche diese Par …“
Gerade noch konnte die Hand ihr den Mund zuhalten, und mit weit aufgerissenen Augen starrte Leonora in das wütende Gesicht ihres Mannes.
„Bist du vollkommen wahnsinnig geworden? Willst du unser aller Leben aufs Spiel setzen? Reicht es dir nicht, wenn ich mich opfere? Nein?“
Geschockt löste sie die kalte Hand ihres Mannes aus ihrem Gesicht und sah ihn mit ängstlichen Augen an. Was war nur aus ihm geworden?
Was war aus ihr geworden?
„Ich bin einfach mit den Nerven und meiner Kraft am Ende“, schluchzte sie laut auf. Du bist nicht hier, du weißt nicht, was ich jeden Tag durchmache. Ich bin am Ende.“
„Wer ist das nicht? Meinst du, mir geht es anders? Meinst du, mir macht das alles hier Spaß? Weißt du noch, von was wir damals geträumt hatten? Von unserem eigenen Boot. Du und ich, wir beide ganz allein auf hoher See.“
Für einen kurzen Moment schien die Erinnerung die alten Wunden zaghaft zu berühren, um deren Schmerz zu lindern. Selbst Leonora musste bei diesen Gedanken kurz lächeln und ließ die zaghafte Umarmung ihres Mannes für einen Augenblick zu.
„Wir wollten rauf nach Schweden, nach Norwegen, weißt du noch? Die Polarlichter sehen.“
Johann lachte.
„Damals hätten wir das locker geschafft, heute brauchen wir ein ganzes Passagierschiff.“
Tränen lösten sich aus ihren Augen.
„Ach Johann, ich wünschte, den Krieg hätte es nie gegeben.“
Zärtlich streichelte der kleine Mann seiner kleinen Frau über die feuchte Wange.
„Es vergeht kein Tag wo ich meine Entscheidungen nicht längst bereut und verflucht habe, aber dazu ist es jetzt zu spät. Ich kann nichts mehr ungeschehen machen, ich kann nicht zurück.“
„Kannst du nicht wenigstens über Nacht bleiben?“
In diesem Moment wurde die Salontür aufgerissen und sieben Paar Beine stürmten in den Raum hinein.
„Wir sind schneller als Piefkes Gaul gewesen!“, jubelten die Kinder und Marlene griff nach der Hand ihres Vaters, strahlte ihn mit ihren vier Jahren bewundernd von oben bis unten an und drängte sich zwischen ihre Eltern.
„Bist du unser neuer Papa?“
Während die Kinderschar laut anfing zu grölen, durchzuckte ein greller Blitz Leonoras Gesicht.
Vergessen, Seite 46 ff