Malani
Herr, lass’ mich schöpfen,
Mit meinen Augen, mit meinen Ohren.
Mit beiden Händen die Fülle tragen.
Lass’ mich meine Stimme hören,
Denn ich bin frei...
Der süße Westwind rauschte in den Palmen, und vom Strand her hörte man das Anlegen der Fischerboote. Die Sonne erhob sich gerade über den Vulkanhügel und färbte den Himmel in ein sanftes Purpur.
Ein leises Summen erfüllte die Luft.
Hinter den noch schlafenden Hütten erhob sich eine Gestalt, halb Schatten, halb Geist, von lautloser Eile getrieben, sich dem Strand nähernd.
Ein unvergesslicher Duft von Blüten und Kokosöl begleitete diesen Schatten, eingehüllt in zartes Leinen, der vorsichtig über den Holzsteg zu einem der Boote gelangt war.
„Hast du alles?“
„Ich habe alles.“
„Wo? Wo ist deine Schlafmatte, dein Wasser, deine Kleidung, dein Essen?“
„Alles was ich habe, siehst du vor dir. Nimmst du mich jetzt mit oder nicht?“
Die kleine, zarte Gestalt reichte dem jungen Mann im Fischerboot die Hand und zog sich in das Boot, das nicht größer als ein Baumstamm war.
„Ich werde euch Frauen nie verstehen. Ich kann nicht glauben, was ich hier mache. Weißt du, dass sie mich töten werden, wenn ich zurückkehre?“
Der junge Mann stieß schweigend mit dem Paddel aus Bambusrohr in die seichte Brandung.
„Nur ein Dummkopf kehrt zurück.“
Salzperlen schimmerten auf Malanis Wangen, und schnell drehte sie sich um, damit niemand ihre Tränen sehen konnte. Immerhin brach sie mit „Niemand“ in eine ungewisse Zukunft auf, wo keiner von beiden wusste, was sie erwartete.
„Niemand“ war Kaioro, der Sohn des Häuptlings, der mit seinen gerade 19 Jahren zu wissen schien, dass er ein Held war. Ein Held, weil er dieses junge Mädchen, das gerade einmal zwei Jahre jünger war, vor dem grausamen Opfertod retten wollte. Malanis Eltern waren auserwählt worden, ihre älteste Tochter den Göttern zu weihen, auf grausamste Wei-se ihren Tod herbeizuführen, wie es unmenschlicher nicht sein konnte. Seit Tausenden von Jahren schien dieses Gesetz zu gelten, unbarmherzig - ohne Würde, ohne Gnade. Als Malani erkannte, dass sie diesen Weg gehen sollte, rief sie voller Verzweiflung die Götter an; sie schrie zum Himmel, der ihre einzige Hoffnung zu sein schien.
Aber nichts passierte.
Es gab kein Erdbeben, kein Vulkanausbruch - nichts.
Nichts, was sie hätte retten können.
Sie wartete auf ein Wunder, aber das Warten machte sie alt und verdunkelte ihren Geist. Immer öfter saß sie draußen unter den schattigen Palmen und starrte auf das Meer. Ohne ein Wort auf den Lippen vergingen so Augenblicke, Tage, Wochen.
Priester kamen, um den bösen Geist aus ihr zu vertreiben, aber niemand nahm ihr die Last, die sie erdrückte, die sie als älteste Tochter gefangen hielt. Bis zu jenem Tag vor dem Tag des Sonnenaufgangs, als Kaioro sie unerwartet aufsuchte. Es war mehr ein Zufall, dass er Malani unter den tanzenden Menschen traf, und doch schien es keiner zu sein.
Es war, als würden sich zwei alte Freunde aus vergangenen Tagen kurz wiedersehen, um sich zu retten. Zu einem Zeitpunkt, den sie vor langer, langer Zeit selbst bestimmt hatten. Ein kurzer flüchtiger Augenblick der Erinnerung reichte dazu aus, dass Kaioro entschlossen war, Malanis Flucht vorzubereiten. Noch ehe das Mädchen begriff, was er plante, stürzte sie sich in Zweifel und Selbstvorwurf. Hatte sie überhaupt das Recht, sich dem Willen der Götter zu entziehen? Es war ihre Bestimmung seit Anbeginn der Zeit, ihr Leben für die Götter zu opfern. Sie durfte nicht undankbar sein, nach allem, was ihre Eltern für sie getan hatten. Doch was würde geschehen, wenn sie dem Wahnsinn entfliehen würde?
Jener Tag vor dem Tag des Sonnenaufgangs zerriss ihr das Herz. Sie spürte, dass sie sich entscheiden musste. War sie stark genug, sich aus dem engsten Band der Familie zu lösen und eine ungewisse Zukunft anzunehmen?
„Nein, ich will nicht sterben“, schrie sie dem Sonnenuntergang entgegen. Wie eine Statue aus glühendem Lavastein ragte sie aus dem Wasser, kletterte auf den Felsvorsprung und wandte sich der untergehenden Sonne zu. Der Wind trocknete ihre Tränen und ihr langes, dunkles Haar umhüllte ihren schutzlosen Körper.
„Ich will nicht sterben, hört ihr!“
Der Himmel leuchtete in seinem blutroten Kleid und setzte damit ein Siegel auf diesen Tag vor dem Sonnenaufgang.
Kaioro war kein Dummkopf.
Er wusste ganz genau, auf was er sich da eingelassen hatte. Die Gewissheit, dass es auch für ihn kein Zurück in seine Familie, zu seinen Freunden, zu seinem Stamm - ja zu seiner Bestimmung als Sohn des Häuptlings mehr gab, machte ihn fast wahnsinnig und krank.
Tagelang trieben sie auf dem offenen Meer umher, der Gefahr ausgesetzt, von ihrem Stamm eingeholt und getötet zu werden. Die heiße Sonne und die Windstille zerrten an ihren Nerven, ließen Fantasien wach werden, in denen der Tod als Erlösung herbeigesehnt wurde. Dieser Opfertod schien der grausamste von allen, selbst herbeigeführt, langsam verdurstend, einer endlosen Zeitspanne ausgesetzt.
Tag und Nacht, Sonne und Mond - Hitze und Kälte, Hunger und Durst.
Was konnte es Schlimmeres geben, als sich selbst diesem Tod zu weihen?
Am vierten Tag kam von Westen ein heftiger Sturm auf, der die dunklen Regenwolken am Horizont zusammentrieb. In der Ferne donnerte es und die salzige Luft bäumte sich auf. Die Wellen drängten sich immer dichter an das kleine Boot, und der Meerschaum umspülte die leblosen Körper. Grelle Blitze zuckten durch die Wolken und ein lautes Trommeln durchbrach die tagelange Stille. Malani hörte dieses seltsame Geräusch zuerst. „Kaioro, Kaioro wach’ auf, die Götter haben Mitleid mit uns, sie schicken uns Wasser.“ Malani war nicht in der Lage sich aufzusetzen, um sich etwas Regenwasser mit dem Segel aufzufangen. Sie spürte nur, wie sich ihr Mund öffnete und ein lieblicher Geschmack die Stimme in ihre vertrocknete Kehle zurückbrachte. Sie konnte nicht einmal mehr richtig denken; das Meer hatte ihr den Verstand verwirrt, jegliches Gefühl von Zeit genommen. Ihr kamen die vier Tage wie endlose Wochen vor, wie Jahre voller Entbehrungen und Verzweiflung. Jetzt peitschte der Sturm das kleine Boot durch die hohen Wellen, doch eine unsichtbare Hand schien es sicher zu lenken, so dass die Tiefen es nicht verschlingen konnten.
Es war finstere Nacht, als Kaioro nach Malani rief. Seine Stimme klang wie das dunkle Horn der Fischer, wenn sie von einem guten Fang zurück zur Insel kehrten. Doch dieser Laut, der durch die Dunkelheit zog, konnte nichts Gutes bedeuten.
„Malani, lebst du noch? Ich glaube, die Götter wollen uns nicht.“
Als Antwort kam ein leises Stöhnen.
„Doch, Kaioro. Sie wollen uns schon, aber nicht tot, sondern lebendig.“
„Was meinst du damit?“
„Ich weiß nicht, aber mir war, als hätten uns die Götter durch den Sturm geführt.“
Malani wirkte nachdenklich.
„Ich weiß jetzt, dass wir nicht dazu bestimmt sind, geopfert zu werden.“
Aus: Lichtblicke und andere Sehenswürdigkeiten, Seite 11 ff