Autorin aus Leidenschaft

Petra Pauls-Gläsemann

PROLOG

Draußen war es still. Die lärmenden Straßen ruhten noch in der abgeschiedenen Dämmerung. Nur hier und da konnte ich das Brummen eines Motors oder das Schreien eines Sterbenden hören. Langsam zog sich ein heller Faden am Horizont entlang, der auch mein kleines Zimmer erhellte. Der Wahnsinn hatte immer noch kein Ende genommen.
Seit Stunden lag ich fast bewegungslos in meinem Bett, und dachte über diesen Traum nach, der mich aus meinem kurzen Schlaf gerissen hatte. Er machte mir Angst, und mit jeder Sekunde, mit der sich mein dunkles Dachzimmer erhellte, schwand auch die Erinnerung an ihn. Zurück blieb ein fader Geschmack von Endzeitstimmung, wie sie in den dunklen Spelunken von den Aufständigen prophezeit wurde.
Angst.
Sie  hatte sich unter den Menschen ausgebreitet wie eine neue Seuche. Eine sprachlose Angst, die sich in die leeren Gesichter eingefressen und mit einer feinen Wachsschicht überzogen hatte. Sie kam irgendwann aus dem Nichts hervor und wurde als neue Gefahr, alsRebellenaufstand oder sogar als Endzeitprophezeiung den Unwissenden, Tauben und Blinden verkauft. All denen, die sahen und dennoch blind waren oder nicht hören wollten. Den Bequemen, die sich sicher fühlten und nicht an das Morgen dachten, an die eigene Zukunft oder auch an die verbotene Vergangenheit, schien die Seuche nichts auszumachen
.
Wie eine Lüge griff sie immer weiter um sich und wurde ständig als Wahrheit verkauft, wie seit Jahrhunderten. Und jede Hand, jedes Gewissen, das sich dagegen auflehnte, jeder Mund, der das Schweigen brach, wurde auf sensible Weise unterdrückt und schließlich ausgelöscht. Jeglicher Wille wurde gebrochen, der Mensch abhängig, , verrückt gemacht. Letztendlich bis in den Tod getrieben. Ja, ermordet! Erst wurde der Glaube an sich selbst geraubt, die eigene Wahrnehmung, und dann schließlich die Existenz genommen. Die eigene Persönlichkeit, die freie Entscheidung. Das alles konnte sich dann plötzlichwie der Dunst über der Stadt an einem heißen Sommertag auflösen. Bis hin zur vollständigen Auslöschung durch das schleichende Gift, das man erst in das weltweite Zahlungsmittel, später in Wasser und Luft mischte, um sich jeder Schuld zu entledigen. Danach fing man an, die geistlichen Führer zu töten, die sich tatsächlich nach und nach aus dem Wahn gelöst hatten und zu Verrätern der eigenen Sache wurden. Hatten sie wirklich die geheimen Pläne dieser Welt durchschaut oder fühlten sie sich dem einfachen Volk gegenüber einfach nur schuldig?
Doch wer fragte schon nach Schuld …
Sie war altmodisch geworden und hatte keinen Platz mehr in der modernen Gesellschaft. 
  „Frau, sag‘ ihnen, sie müssen den Einen retten, sonst war alles umsonst!“
Das war alles, was ich aus diesem seltsamen Traumgebilde in jener schwülen Nacht mitnehmen konnte. Da wachte ich auf!

Ich folgte meinem morgendlichen Ritual und griff nach den Tabletten, die in meiner Nachttischschulblade lagen. Automatisch drückte ich die harte Kunststofffolie durch und ließ die kleine Droge direkt auf meine Zunge fallen, bevor ich sie mit einem Schluck Wasser in die endlose Weite meines Körpers hinunter spülte. Ein tiefer Atemzug ließ den letzten Gedanken an die vergangene Nacht endgültig verschwinden.  Eine Nacht, die mein ganzes Leben verändern sollte. Eine Nacht, die mich noch lange nicht loslassen und vor allem verfolgen würde.Damals wusste ich noch nicht, dass von diesem Tag an nichts mehr so sein würde wie früher. Hätte ich es an diesem stillen Sommermorgen gewusst – ich hätte niemals aufwachen wollen. 

Erstes Kapitel (Auszug)

Der stickige Geruch, der sich durch das halboffene Fenster quälte, hatte längst den ganzen Raum erfasst, und ließ meine wenigen Prilefos würgen und husten. Draußen auf der Umgehungsstraße hatte die Stadtverwaltung die Bulldozer bereits zum dritten Mal in Position stellen lassen und langsam breitete sich unter den Menschen um mich herum eine Art Panik aus, die ich alleine nicht mehr im Griff hatte. 
„Sie bringen uns um, Lara. Tu‘ doch endlich was, wir müssen hier raus!“
Elias Stimme erreichte mich nicht wirklich. Er war einer der wenigen Helfer, die noch geblieben waren und nichts mehr zu verlieren hattenn. Ein Virus hatte die halbe Stadt ausgerottet; ein unbekannter Todesengel hatte sich zu den Ärmsten der Armen gesellt, um sie nach und nach in sein Reich zu führen. Als Gesundheitsinspektorin für Prilefos der Klassifizierung 1/39, hatte ich zwar einen Verdacht, aber diesen auszusprechen hätte mich nicht nur meine kleine Praxis, sondern auch mein Leben gekostet.
Es war wieder soweit. Ich musste vorsichtig sein. Es war gefährlich, die eigenen Gedanken nicht unter Kontrolle zu haben.  Auch mich hatte die Angst fest im Griff und sie verfolgte mich auf Schritt und Tritt. Wie ein Wundfieber stürzte sie sich auf alles, was anders dachte und glaubte. Was überhaupt noch denken und glauben konnte. Es gab längst keine Wahl mehr. Die Regierung hatte die ganze Menschheit mit falschen Überzeugungen geimpft. Ihr Serum war voller Gift und ließ nur eine ausgewählte Schicht am Leben. Eine kleine Gruppe von Menschen, die sich in mühseliger Arbeit über Jahrzehnte fast willenlos auswählen ließ. Man nannte siedie Bewussten Menschen.
Ich verfluchte jeden Tag aufs Neue, die Dummheit unserer Eltern und Großeltern, die Inkonsequenz ihres Handelns, ihres Denkens. Ihre Leichtsinnigkeit, ihre Gutgläubigkeit, aber auch ihre Abhängigkeit und Trägheit. Sie brachte uns jetzt nach und nach den sicheren Tod.
Es fing vor vielen Jahrzehnten an, als geheime Daten der unterschiedlichsten Regierungen auf einmal an die Öffentlichkeit kamen. Sie deckten Betrug und Spionage, Wettermanipulation und verbotene Genforschung auf. Aber damit nicht genug. Ein kompliziertes Kontrollsystem schaffte sich Zugang zu den persönlichen Lebensgewohnheiten junger Menschen, die nicht nur in den damals bestehenden Industrieländern lebten. Es folgte eine Flut von systematischer Aussondierung, die unbemerkt - und vor allem geheim – vonstatten ging. Alles war bis ins kleinste Detail über Jahrzehnte geplant worden. Und niemand schien sich sonderlich daran zu stören. Vielen war es egal, was um sie herum passierte. Eine Welle von Egoismus hatte schon lange für Gleichgültigkeit unter den Menschen gesorgt. 
„Das ist der reinste Völkermord, den hat es schon immer gegeben hat“, erzählte mir Elias dann aus seiner Vergangenheit, als seine Großeltern und seine Verwandten im Osten der Eurozone vergast wurden. Es hörte sich eher wie ein Horrortrip an, wenn er die verbotene Vergangenheit noch einmal lebendig werden ließ. Ja, es war verboten sich darüber zu äußern, denn diese Vergangenheit gab es nicht. Sie war das Hirngespinst einiger Runner, so nannte man die Leute, die in den Randzonen der Städte lebten. Sie waren ständig in Bewegung, um nicht inhaftiert oder in die Zentralkliniken gesperrt zu werden. Diese alten Männer und Frauen nannten sich Historiker oder Biologen, sogar einige Ärzte waren unter ihnen und verarmte Politiker aus dem alten System. Sie erzählten von dem künstlich herbeigeführten Klimawandel, der angeblichen weltweiten Finanzkrise Anfang des Jahrhunderts. Hier ein paar Flutopfer, dort ein paar Erdbebentote. Hier ein paar Tausend Influenzatote oder Seuchenopfer, dort unzählige Menschen, die nach und nach den Verstand verloren und in Kliniken eingesperrt wurden. Ihre Erzählungen ähnelten sich alle. Sie sprachen von diversen Militär- und Geheimdienstapparaten, der mechanisch angesetzten Ausrottung der Menschheit und immer wieder über diese eine gigantische Schattenregierung, die nach globaler Macht strebte. 

Sie alle sprachen auch von der tödlichen Gefahr vom Himmel. Diese seltsamen Gebilde an lauwarmen Sommertagen. Es war wie ein dumpfer Nebel aus Aluminium,der aus den Wolken regnete, sich ins Gehirn fraß und alle Lebensfreude raubte. Doch niemand glaubte den Wenigen, die sich versuchten zu wehren. Es war ein abgekartetes Spiel, eine alte Philosophie des Lebens, das nur derMächtige überlebt. 

Auch heute noch, nach so vielen Jahren,sah man sie fliegen. Hoch oben an einem sonnigen Sommerhimmel. Mittlerweile gab es für die Elementarier Schutzkleidung, die sie direkt auf der Haut trugen, verdeckt unter ihren dunklen Anzügen und feinen Kostümen. Es galt so normal wie möglich auszusehen und sie merkten gar nicht, wie gequältdas in unseren Augen wirkte. Leer und ohne Regungen. Wenn die Jets wieder eine Ladung voll Kunstregen auf die Landschaft rieseln ließen, veränderte sich innerhalb von sechs Stunden nicht nur das Wetter auf dramatische Weise. Längst hatte man aufgehört von dem lächerlichen Klimawandel zu sprechen. Es galt, das Lebensalter konstant zu halten. Nur wer kräftig und gesund war, brauchte sich nicht zu fürchten. Für die Kranken, die Prilefos, war ich zuständig und es war kein Zufall, dass mir direkt unter einem Bestattungsunternehmen drei kleine Kellerräume zugewiesen worden waren, wo ich notdürftig diese Individuen versorgen konnte. Heilen war nicht meine Aufgabe. Ich wurde dazu ausgebildet, ihr Leiden so kurz wie möglich zu machen und das Sterben zu kontrollieren.
Sogar ich litt zunehmend darunter, dass der Mangel an Sauerstoff und Sonnenlicht unsere Gene immer mehr veränderte. Anders konnte ich mir das alles nicht mehr erklären, was mit den Menschen hier seit Jahren passierte.
„Du musst in die Forschung, du sollst es einmal besser haben als ich.“
Lieber hätte mein Vater mir die Wahrheit sagen sollen, ich war durchaus in der Lage, sie zu verkraften. 
„Du musst in die Forschung, sonst bringen sie dich auch noch um.“
Die letzten Worte meines Vaters auf dem Sterbebett waren schon zu lange her, um mich bewusst daran zu erinnern. Stattdessen lebte ich für die Bevölkerung, die langsam um mich herum verhungerte oder mitten aus dem Leben gerissen wurde, weil der unkontrollierbare Sekundentod auch vor ihr nicht Halt machte. Jener Tod, der nachts in den Städten und über die Randbezirke versprüht wurde und der einen stickigen Geruch hinterließ. Er verätzte die Schleimhäute, löste die Blutgefäße innerhalb weniger Stunden auf, und ließ die Menschen so qualvoll verbluten. Es war schon makaber, so etwas Sekundentod zu nennen. Nur Sadisten konnten sich so etwas ausdenken. Sadisten wie Fabio. Damals war ich mehr als nur geschockt, als mir der angehende Forschungsassistent aus der Eurozone II von einem konspirativen Gegenmittel erzählte. Ich hatte Fabiounerwartet auf einem Kongressin Paris für Bioethik wiedergetroffen, unerfahren und voller Enthusiasmus. „Lara, sei doch endlich vernünftig. Du bist eine junge, zielstrebige und intelligente Frau. Wie lange willst du dich noch mit diesen Kreaturen abgeben?“
„Diese Kreaturen, wie du sie bezeichnest, diese Kreaturen sind Menschen. Ich kann nicht mit ansehen, wie sie für unmenschliche Wertvorstellungen sterben sollen.“
Ich saß wie versteinert in der Lounge am Flughafen, in die mich Fabio nach der letzten Veranstaltung unter einem falschen Vorwand eingeladen hatte, und starrte auf das Glas vor mir, in dem sich eine braune Brühe aus angeblich rein biologischen Mineralstoffen befand. 
„Willst du nicht wenigstens einen Schluck trinken?“
Ich sah in Fabios hellblaue Augen und wusste, dass es eine Falle war, in die er mich hineinstoßen sollte. Niemals wäre er auf die Idee gekommen, mich zu etwas zu zwingen, was ich nicht wollte. Ich kannte Fabio nun seit mehr als 10 Jahren, wir hatten uns in der Elementarschule kennengelernt. Damals … Fabio war nicht immer so gewesen: gewissenslos und korrupt, aber auch überängstlich und eingeschüchtert. Vorsichtig setze ich das glatte Gefäß an meine Lippen und ließ den eigentümlichen Geruch in meine Nase hochsteigen.
„Wir brauchen Frauen wie dich. Ich habe schon mit unserem Inspektor gesprochen. Unter bestimmten Umständen wäre er bereit …“ 
„Wäre er bereit mich am Leben zu lassen?“, zischte es wie eine Giftschlange aus meinem Mund, während ich den Schluck Tutamen-2080 auf den steinkalten Marmorboden spuckte. 
„Lara, du bist in großer Gefahr. Ich bin nur gekommen, um dich zu retten. Man hat dich schon seit langem beobachtet, mehr kann ich nicht sagen. Ich will nicht zulassen, dass …“
„Dass ich genauso qualvoll sterben muss wie alle anderen, die nicht in euer System passen? Oder so wie mein Vater? Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern. Ich habe nichts vergessen. Weißt du, was uns beide unterscheidet? Einmal ganz davon abgesehen, dass ich zu den Armen dieser Welt gehöre und du zu den Reichen. In meinen Adern fließt noch Blut, während du nur noch aus Tutamen bestehst!“ 

An jenem Abend verließ ich nicht nur wütend, sondern auch alleine und voller Angst das Lokal und sah Fabio nie wieder. Was hatte er aufs Spiel gesetzt, um mich vor dieser Vernichtung zu retten? Ich wollte es gar nicht wissen. Irgendwie spürte ich, dass ich diejenige von uns beiden war, die noch einigermaßen klar denken konnte. Die Menschheit hatte irgendwann aufgehört über sich und das Leben nachzudenken, die Dinge um sich herum in Frage zu stellen. Wahrscheinlich wäre ich auch so geworden wie er, wenn ich nicht Zeit meines Lebens ständig unter diesen Träumen gelitten hätte. Sie kamen plötzlich, unerwartet und brachten meine Gedanken auf seltsame Wege, die mir vollkommen fremd waren. Wie eine kühle Berührung schenkten sie mir ein Wissen, das in keiner digitalen Bibliothek gespeichert war. Diese Träume waren unerklärlich real und von einem schmerzhaften Charakter. Sie waren viel schlimmer als der schlimmste Albtraum und irgendwann konnte ich mir einfach keine Albträume mehr erlauben. Meine dahinschwindenden Kräfte musste ich für wichtigere Dinge aufheben. Ich wollte leben!
Zum Glück bot mir mein bescheidenes Leben auch einen gewissen Schutz. Ich war mangels GlobalNet und ChipPhone nicht mehr so leicht zu orten, meine Ausweispapiere trug ich in einer alten Teflonhülle bei mir, die eine Ortung schwer machten. Meine Träume hatten mich gelehrt, meine Gedanken zu schützen, unter Kontrolle zu halten. Nichts nach außen zu lassen, was mich verraten könnte. Meine kleine Praxis lag geschützt eingebettet in einer alten Betonruine der zwanziger Jahre. Hier war ich sicher, so glaubte ich zumindest. Es störte mich nicht, dass über mir ein Bestatter seine Geschäfte machte, ganz im Gegenteil. Das Leben hatte sich in den letzten  30 Jahren dramatisch verändert. Zwar war die Vergangenheit ausgelöscht worden, dennoch war sie von Zeit zu Zeit fühlbar nah. Was früher unzählige Gesundheitsbehörden regelten, verlagerte sich jetzt nur noch auf eine Art Tauschgeschäft. Es gab keine sozialen Stationen mehr, das Wort Sozial war ebenso verschwunden wie Mitgefühl und Anteilnahme. Alte Systeme hatten an Interesse und Macht verloren, nicht einmal das Geld hatte noch Wert. 

Die Briefschreiberin, Seite 9 ff
Anmerkung: Dieser Roman wurde 2013 nachn einem Traum geschrieben und 2014 veröffentlicht


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