1. Kapitel
Seltsame Begegnung
Der kleine Mann in meinem Ohr hatte sich an einem düsteren Januartag bemerkbar gemacht und ehe ich mich versah, gehörte er in mein Leben - und das ohne Vorwarnung! Er hatte es sich in meinem Ohr bequem gemacht, als ich über den tieferen Sinn dieses Lebens nachdachte.
Woher er kam?
Keine Ahnung. Ich hatte ihn irgendwo im Großstadtgewimmel aufgespürt und erst gar nicht so richtig wahrgenommen. Zu viele seltsame Gedanken und noch mehr Menschen schwirrten um mich herum, so dass ich froh war, als ich endlich in der Straßenbahn saß, die mich nach Hause brachte.
Schon während der Fahrt hörte ich sein Flüstern, erst ganz leise - schon fast unsicher -, dann resolut und selbstbewusst. „Ich fahre jetzt mit dir nach Hause und so schnell wirst du mich nicht mehr los.“
Ich erschrak bei diesem Gedanken, jemanden nicht mehr loszuwerden!
„Wer immer du auch bist, du da in meinem Ohr, ich denke gar nicht daran, dich mitzunehmen.“
„Ha, wäre doch gelacht! Du unterschätzt meine Fähigkeiten. Na, dann warte ab, du wirst schon sehen“, klang es in meinem Ohr.
Damit verabschiedete sich der kleine Kerl und verwundert stellte ich mir die Frage, wer dieser kleine Knilch wohl sei.
Er ließ mich wirklich in Ruhe und fast hätte ich ihn vergessen, wenn er nicht angefangen hätte, mir von seinem Leben zu erzählen. Ausgerechnet als ich das Licht gegen Mitternacht ausschaltete und mich in meine weichen Kissen fallen ließ, fing dieser Kerl an, es sich richtig gemütlich zu machen. Er hatte sich wohl irgendwoher Kopfkissen und eine Decke besorgt und sich häuslich in meinem Ohr niedergelassen.
Ich konnte es nicht fassen!
Ohne mich zu fragen, sich wenigstens zu erkundigen, ob ich nicht müde sei und schlafen wolle, kitzelte er mich vorsichtig am Ohrläppchen und legte los.
Es dauerte die ganze Nacht - wirklich die ganze Nacht. Bis in den Morgen quasselte er unaufhörlich und zwischendurch fragte ich mich oft, ob ich mir da nicht einen verwunschenen Frosch ins Bett geholt hatte; aber sein Leid rührte mein Herz zu Tränen und ich versprach ihm unbedacht, ruhig bei mir bleiben zu können. Ja, ich lud ihn ein, mein Gast zu sein, an meinem Leben teilhaben zu können - solange er meine gestressten Nerven nicht noch unnötig strapazierte.
Was zu Anfang recht vernünftig klang, artete innerhalb von wenigen Tagen auf sonderbare Art und Weise aus. Der Morgen danach - nach was für einer aufregenden Nacht! - fing schon seltsam genug an: Zärtlich, wie es eben nur verwunschene Frösche tun können, wün-schte er mir einen „Guten Morgen“ und verabschiedete sich damit, dass er im Moment zu sehr beschäftigt sei, um sich um mich zu kümmern.
„Idiot!“, dachte ich. Was hatte der Kerl in meinem Ohr schon zu erledigen?
Ging er etwa einem Fulltime-Job nach?
Wundern würde es mich nicht, nachdem, was er mir alles aus seinem Leben erzählt hatte. Der arme Kerl schien nur zu arbeiten, hatte immer was zu tun, war ständig unterwegs. Er vertraute mir an, dass er schon an den merkwürdigsten Ecken der Welt gewesen sei, wo er ständig auf der Suche nach „seinem Ohr“ war. Bevor seine böse Mutter ihn verwünscht hatte - also doch ein Frosch? - hatte er in seinem Horoskop ge-lesen, dass er eines Tages das richtige Ohr finden würde, das ihm zuhört, ihn versteht und mit all seinen Fehlern und Schwächen akzeptiert.
„Und liebt?“, musste ich ihn doch leider unterbrechen.
„Ja, das wäre schön“, kam mir prompt eine voll Sehnsucht erfüllte Stimme entgegen.
Da hatte ich also den Salat!
Es verging nun kein Tag mehr, an dem ich nicht morgens liebevoll, ganz sanft und leise geweckt wurde.
„Ja, daran könnte ich mich glatt gewöhnen“, dachte ich, meine Zehenspitzen zum Bettende hinstreckend. Selbst während des Tages meldete er sich ab und zu und ließ mich schmunzeln.
„Was für ein Gefühl“, dachte ich.
Auch der Blick in den Spiegel ließ einen entspannten Blick erkennen, der mich amüsierte. Was so ein Mann im Ohr alles bewirken konnte; viel angenehmer als ein Mann, der morgens schon nach seinem Kaffee schreit, bei dem das Haus einer qualmenden Zigarettenschachtel gleicht oder wo mir ein Blick in den Spiegel unmöglich ist, weil er mit Hunderten von kleinen, weißen Zahnpastaspritzern - oder was auch immer - übersät ist.
Wirklich, so ein Mann im Ohr war viel praktischer. Er ließ mir den Freiraum, den ich brauchte, und klebte nicht wie eine Klette, vollgestopft mit Eifersüchteleien und Vorwürfen an mir fest. Aber er war eben ein Mann und deshalb waren die ersten Wochen recht gewöhnungsbedürftig.
Es sollten auch die letzten werden.
Irgendwann stellte sich das Gefühl ein, nicht mehr allein in meiner kleinen Zweizimmer-Dachgeschosswoh-nung zu leben.
Es war an einem Donnerstagabend, als ich gestresst von der Arbeit nach Hause kam. Hinter mir lag ein Tag voller fremdländischer Klänge in meinen Ohren, angefüllt mit einem ewig freundlichen Lächeln, das die Zimmerschlüssel ausgab, neue Buchungen entgegennahm und den Zimmerservice zappeln ließ. Werner war ein halbes Jahrhundert alt und lebte zwischen den Weinflaschen und Fässern unten im „Waliser-Keller“. Er sah gut aus, hatte wundervolle graue Strähnen in seinem dunklen Haar und ließ mit seinem Schweizer Dialekt die Frauenherzen höher schlagen. Nur mein Herz behielt stets einen gleichmäßigen Pulsschlag von 80 Schlägen. Gut, manchmal vielleicht auch 88 Schläge. Über 100 kam ich nur, wenn ich mich aufregte.
So wie heute, als Werner mich zum hundertachtund-zwanzigsten Mal fragte, ob ich mit ihm am Wochenende was unternehmen wolle.
Was für eine Frage!
Auf was für eine Antwort hatte dieser Sonnyboy gewartet?
Und zum hundertachtundzwanzigsten Mal sagte ich: „Tut mir schrecklich leid, aus dem Alter bin ich raus. Such’ dir einen anderen Fisch für deine Angel.“
Einen anderen Fisch für seine Angel? Meine Güte, wo hatte ich das denn aufgeschnappt? Ich staunte über meine Worte, die rasend schnell Werners Ego trafen und ihn verärgerten. Ebenso schnell hörte ich ein verschmitztes Lachen in meinem linken Ohr. Das konnte doch nicht wahr sein! Hatte mir der kleine Schelm da was vorgeflüstert?
Auf eine Antwort ließ er nicht lange warten.
„Was der Spinner sich aber auch einbildet. Komm’, lass uns nach Hause gehen“, flüsterte es in meinem Ohr und ehe ich mich versah, war ich aus der Hotelhalle verschwunden.
Da lag ich nun, völlig erschöpft, die Beine leicht angewinkelt, weil ich sonst den Rest meines Körpers nicht unter Wasser tauchen konnte, und atmete den öligen Orangenblütenduft ein, der einen hässlich gelben Rand am Duschvorhang hinterließ. Ich war viel zu müde, um mir Gedanken zu machen, wie ich diesen Mist sauber kriegen sollte und so goss ich zu guter Letzt den Rest der Flasche in das heiße Badewasser.
„Musst du immer so heiß baden? Ich fange langsam aber sicher an zu schwitzen.“
Erschrocken fuhr ich aus meinen Träumen.
„Verschwinde! Los, mir reicht es jetzt. Siehst du nicht, dass ich in der Badewanne liege? Noch nicht einmal hier kann ich allein sein.“
Wütend tauchte ich in dem Schaum unter, in der Hoffnung, ich könnte ihn im Badewasser ertränken.
Einundzwanzig – zweiundzwanzig ... Wie lange würde es dauern, bis die Sintflut in meinen Ohren jegliches Leben ausgelöscht hatte?
Erleichtert tauchte ich wieder auf.
„Mörderin! Du wolltest mich glatt umbringen. Ich kann es nicht fassen. Dabei meine ich es nur gut mit dir. Zugegeben, es ist nicht immer ganz einfach mit mir. Aber dass du mich glatt umbringen wolltest? Ich kann es einfach nicht fassen“, schrie es verzweifelt in meinem Ohr.
Ich konnte es auch nicht.
Was hatte ich mir da eingefangen? Ich hatte nicht vor, mein ganzes Leben Tag und Nacht mit einem Unbekannten zu teilen, der teilweise ganz amüsant, aber auch nervig werden konnte.
Nein, so konnte es nicht weitergehen.
Entweder er benahm sich oder musste wieder ausziehen. Die Grenzen meiner Gastfreundschaft waren restlos überschritten und so setzte ich mich an diesem Abend an meinen Schreibtisch und arbeitete mir folgende Bedingungen aus: Badezimmer und Schlafzimmer sind absolute Sperrzone. Ohne Erlaubnis kein Zutritt!
„Das ist nicht fair“, hört ich ihn mürrisch klagen.
Zu weiteren Punkten kam ich an diesem Abend nicht mehr.
„Doch, die Grenze ist notwendig, um nicht zur Mörderin zu werden“, rechtfertigten meine Worte mich.
„Hast du eigentlich schon viele umgebracht?“
„Wie bitte?“
„Na ja, das liegt doch auf der Hand. Du lebst allein in deinen Sperrzonen und ...“
„Halt endlich die Klappe, mir reicht es für heute!“
Ich kochte vor Wut. Was bildete sich dieser verwunschene Frosch eigentlich ein?!
„Typisch Mann“, dachte ich.
Nur weil ich ihm klar und deutlich meine Grenzen zeigte?
„Soll ich gehen?“
„Ja, aber bitte für immer“, war meine spontane Antwort, die mich selber überraschte.
„Darf ich dich wenigstens ab und zu, nur wenn du willst, besuchen kommen?“
Dir Frage kam ganz zögerlich und mit einem Hauch Vorsicht, den ich nicht überhören konnte.
„Nein danke, mir haben die letzten Wochen voll und ganz gereicht. Ich weiß nicht, wie viele Jahre ich brauchen werde, um mich von dir zu erholen.“
„Geht in Ordnung. Ich werde eine Rundreise machen und Erfahrungen austauschen. Mal sehen, vielleicht bin ich in fünf Jahren zufällig in deiner Nähe. Schließlich bin ich ein Mann und ...“
„Mann?“
Ich glaubte meinen Ohren nicht zu trauen.
Hatte er wirklich Mann gesagt? Ein richtiger Mann und dann auch noch in meinem Ohr? Zugegeben, seine Ansichten und Bemerkungen kamen mir schon irgendwie bekannt vor, aber alles andere überstieg meine Vorstellungskraft. Er versprach mir, sogar noch am gleichen Abend abzureisen und zum Glück hielt er sein Versprechen.
„Schade“, dachte ich, als er mir zum letzten Mal eines seiner Lieblingslieder vorsang. Und dann ausgerechnet „Smoke gets in your eyes …“ Nein, ich hatte mir fest vorgenommen, ihn nicht zu vermissen und so verbannte ich Phil Collins, und all die anderen, in eine staubige Schatztruhe unter meinem Bett, um ihn nie wieder hören zu müssen. Zum Abschied gönnte ich mir meinen Lieblingsschokoriegel, den ich wie ein Heiligtum bewahrt hatte: Erdnussbutter mit Schokoladencreme überzogen ...
„Schmecken die Dinger überhaupt?“
„Ich liebe diese Dinger, warum?“
„Du solltest nicht so viel davon essen, vielleicht werde ich dich dann in fünf Jahren nicht mehr wiedererkennen.“
Das schien die Lösung aller Probleme!
„Lass ihn erst einmal weg sein“, dachte ich und biss genüsslich in den Schokoriegel hinein.