Autorin aus Leidenschaft

Petra Pauls-Gläsemann

Damals

Die alte Frau fühlte sich seltsam, als sie nach der Tasche griff, die ihr die junge Verkäuferin entgegen hielt. Es waren nur einige kleine Bilderrahmen, nichts Besonderes, dennoch schien sie in diesem Augenblick eine Last auf sich zu nehmen – eine unbeschreiblich schwere Last – der sie sich nicht einmal bewusst war. Sie spürte den Schmerz der Erinnerung aufkommen, der ihr schon einmal das Herz zerrissen hatte. Damals, als sie noch jung und hübsch war, so wie diese Frau gerade, die sie durch das Schaufenster beobachtet hatte und deren entsetztes Gesicht ihr so vertraut vorkam.
Dieses Gesicht, diese dunklen Augen. Die junge Frau musste so um die dreißig gewesen sein und irgendetwas Schreckliches schienen ihre dunklen Augen in dem Schaufenster, das vollgestopft war mit Bilderrahmen und festlicher Weihnachtsdekoration, entdeckt zu haben.
Margarete von Weidmann zuckte zusammen.
Ihr grau gewelltes Haar fiel ihr ins Gesicht und ein leises Stöhnen drang aus ihrem halb geöffneten Mund.
Langsam schob sie sich in die kühle Dezemberluft und hoffte sehnlichst auf Erleichterung, aber dafür war es zu spät. Etwas hatte sich in ihr eingefressen, wie ein böses Geschwür, das nach und nach den Körper verzehrt.
Wie eine unheilbare Krankheit, von der man wusste, dass sie den Tod bringen würde.
„Ist alles in Ordnung?“
Die junge Verkäuferin hielt der alten Dame die Tür auf, doch sie stand immer noch wie angewurzelt, unfähig, weiterzugehen. Ihr Blick war glasig und die faltige Haut war weiß geworden, wie der Talg, den sie vor einigen Stunden noch beim Fleischer gekauft hatte.
„Geht es Ihnen nicht gut? Warten Sie, ich hole Ihnen einen Stuhl.“
Die junge Verkäuferin drehte sich zur Seite und eilte den schmalen Gang hinunter, der endlos zu sein schien. Kleine Halogenscheinwerfer warfen ein interessantes Muster auf die hellen Bodenfliesen und verwandelten diese in eine spiegelglatte Eisfläche, durch die sie hätte durchbrechen können, wenn sie zurückgegangen wäre.
Nein, es war unmöglich.
Margarete wollte nicht zurückkehren, nicht die Zeit noch einmal zurückdrehen.
Nicht nachdenken – nur nicht nachdenken und auf keinen Fall zurückgehen!
Zurück in ein Leben, das ihr Wunden von unbeschreiblicher Härte zugefügt hatte. Damals, als Margarete noch Sara hieß und unbekümmert über die Felder und Wiesen laufen konnte, weil sie sich frei fühlte.
Dabei war sie schon lange nicht mehr frei.
Seit dieser Österreicher seine Hetzparolen gegen Juden veröffentlicht hatte, war sie sich ihrer Abstammung voll bewusst. Sie war die Tochter eines Juden, Jakob Rosenberg, und trug als älteste Tochter den Namen ihrer Mutter Sara. Dass ihr Anderssein ganze Völker mit Hass erfüllte, war ihr bis zu jenen Tagen nicht in den Sinn gekommen. Sie verschlang die Bücher ihrer damaligen kritischen Zeitgenossen und schwärmte für Kafka oder den humorvollen Kasper Hauser, den sie 1930 sogar in seinem Exil in Schweden aufgesucht hatte. Sie liebte seine Redensart, mit der er seine Geschichten voller Witz lebensnah formen konnte. Er zeigte ihr den unsterblichen Herrn Wendriner, wenn sie am Mälar-See auf Passanten stießen. Es gab sie mit schwedischer Herkunft, mit deutscher oder jüdischer … Als er sich fünf Jahre später das Leben nahm, wusste Sara, dass dieser österreichische Fanatiker gewonnen hatte. Nichts würde mehr so sein wie früher, weil es die Wiesen und Felder für Menschen ihrer Rasse nicht mehr gab. Die Zeichen der Zeit hatten sich nicht nur geändert, sie lagen wie eine verhängnisvolle Seuche über alle Menschen, die anders waren.
Dabei sah Sara gar nicht so anders aus. Ihre blonden langen Haare trug sie meist hochgesteckt oder zu einem Zopf geflochten. Ihr Körper war gut durchtrainiert, weil sie einst zu den besten Schwimmerinnen der Stadt gehörte. Sie hatte sogar eine Urkunde über ihrem Bett hängen – aber wen interessierte das schon?
Mit der Seuche kam die Gleichgültigkeit, die ganze Familien zerstörte, ganze Generationen ausrottete.
Sara erinnerte sich noch gut an den Abend, als ihr Vater völlig verstört aus seinem Geschäft hochkam. Ein kleiner staubiger Laden, gleich unten im Erdgeschoss, nett eingerichtet, der hauptsächlich kostbare Pelzmäntel und Schmucksachen als Pfand entgegennahm. Ab und zu hing auch ein Bild im Flur und einmal stand sogar ein richtiges Auto unten vor der Haustür, auf dessen Kühlerhaube man sich spiegeln konnte.
„Es reicht zum Leben“, behauptete der alte Rosenberg immer, wenn er in die strahlenden Augen seiner Kinder sah. Dieser alte, stille Mann – der sich freitagabends hinter zuge-zogenen Vorhängen verbarg, weil er sich schämte, wenn er sich für das Gebet niederkniete  – der sein Leben von einer Minute zur anderen einfach ausgelöscht hatte. Wie wenn man einer Kerze den Sauerstoff nimmt, so nahm sich dieser Mann die Luft zum Atmen. Sara hörte noch seine Worte, die er an jenem Sabbat sprach, als er abends aus der Synagoge heim-kehrte. Ihre Mutter hatte das ganze Haus an diesem Wochenende besonders geschmückt und sie Hawdalakerze auf der kleinen Anrichte angezündet. Auf dem sauber gedeckten Esstisch stand ein Festmahl mit leckeren Gaumenfreuden, die der Keller und die Küche zu bieten hatte.
Vor dem Essen hatte sich der alte Mann zu seinen drei Töchtern gesetzt, berührte mit zittrigen Händen die zarten Gesichter, und segnete sie der Reihe nach.

Jakob Rosenberg hatte schon Tage, ja Wochen zuvor eine unglückliche Entscheidung getroffen. Noch bevor die ersten drei Sterne am Abendhimmel erschienen, die den Tag des Herrn beendeten, erhob sich der kleine grauhaarige Mann und gab nun endlich seine Entscheidung der ganzen Familie bekannt, dass er sich nämlich bereit erklärt hatte, zum Christentum zu konvertieren.
„Nein, Jakob, Tu‘ das nicht! Du bist kein Konvertit, tu‘ uns das nicht an. Ich bitte dich, denke an deine Töchter, denke an mich.“
Sara Rosenberg schob entsetzt den Wein zur Seite und sah in das aufgeregte Gesicht ihres Mannes.
Eine entsetzliche Stille folgte.
„Ischah …“
„Nein, Jakob, wenn du diesen Schritt machst, werde ich nicht mehr deine Ischah sein.“
Saras Mutter war eine kleine, zerbrechliche, jedoch resolute Frau, die es verstand, ihren Mann zu lenken und das Beste aus allem zu machen.
Aber hier hatte sie ein Glück.
Es folgten Monate der Angst, des Verrats und der Gottlosigkeit. Tage ohne Worte, Wochen ohne Erbarmen.
Aus Jakob Rosenberg wurde Johann Rosenberg. Dennoch konnte er seinem Schicksal nicht entfliehen. Das Wasser der Taufe hatte nicht die Macht, seine Abstammung abzuwaschen, sie wie einen Fehler zu bereinigen. Als man ihn Jahre später in ein Arbeitslager brachte, half selbst sein katholisches Glaubensbekenntnis nicht weiter. Es klang eher wie eine Lüge; eine lächerliche, billige Lüge.

Margarete blickte auf den eleganten Stuhl, der plötzlich vor ihr stand. Betäubt vor Schmerzen ließ sie sich auf ihn nieder und griff mit zittriger Hand nach dem Glas Wasser, das ihr die freundliche Verkäuferin entgegenhielt. Es war schon spät.
Draußen war es längst dunkel geworden und die Geschäfte in der Passage fingen an, die Lichter zu löschen und die Türen zu schließen. Eine eiskalte Hand griff zu dem weißen Spitzentaschentuch.
„Ich danke Ihnen, Fräulein. Ich sollte mich jetzt auf dem Weg nach Hause machen, es ist schon sehr spät.“  „Vergessen Sie Ihre Bilderrahmen nicht!“
„Ach ja, die Bilderrahmen. Die hätte ich doch fast hier stehengelassen.“
Verlegenheit huschte über Margaretes Gesicht, das immer noch eine gewisse Blässe hatte.
Sie war alt geworden.
Innerhalb weniger Minuten hatte sich ihr ganzer Gesichtsausdruck, ihre ganze Haltung, sogar ihr Wesen verändert. Wie alt mochte sie sein? Sechzig Jahre? Vielleicht auch fünfundsechzig? Hätte sie jetzt ihren Pass vorzeigen müssen, hätte man zumindest gewusst, dass sich schon damals eine unverhohlene antijüdische Stimmung unter dem Volk breit gemacht hatte. Es war das Jahr, in dem die Linie ohne Bauch an Modebewusst-sein gewann, wo sich jede elegante Frau in solch ein unbequemes Korsett hinein quälte. Es war das Jahr, in dem der italienische Dirigent Arturo Toscanini sein Debüt mit „Aida“ von Verdi an der Metropolitan Opera in New York gab.
Damals.
Es war schon zu lange her.
Der frische Wind tat gut, den sie auf ihrer müden Haut spürte, bevor sie in das wartende Taxi stieg, das sie ein paar Straßen weiter fuhr. Das Viertel, in dem sie seit nunmehr über fünfundzwanzig Jahren wohnte, war gegen Ende des 17. Jahrhunderts das Judenviertel gewesen. Es lag außerhalb der Stadtmauer, was nur wenige wussten. Einer von ihnen war ihr Mann, Johannes von Weidmann, der Historiker und Lehrer an der städtischen Volksschule. Er machte Margarete mit den historischen Schauplätzen dieser kleinen Stadt vertraut, ebenso mit ihrer Geschichte, die dieses kleine Winzerstädtchen seit Jahrhunderten beeinflusst hatte. Was noch vor der Jahrtausendwende als fränkische Siedlung eingebettet im Maintal ihren Ursprung hatte, stand nun als Zeuge einer unverwechselbaren Geschichte in voller Blüte. Margarete hatte diese kleinen malerischen Fachwerkhäuser mit ihren kleinen engen Gassen lieben gelernt. Gleich nach dem zweiten Weltkrieg fand sie hier eine neue Heimat und Menschen, die ihre tiefen Wunden heilen konnten. Es störte sie nicht, wenn sich ihr Mann scherzhaft über den seltenen Zufall ausließ, dass ein Jude immer wieder zu seinen Wurzeln zurückkehrt. Margarete fühlte sich nicht als Jüdin – sie hatte sich schon lange nicht mehr als Jüdin gefühlt. Auch damals nicht, als man ihr die grässlichen Ziffern vom linken Unterarm entfernte. Es war ein höllischer, ein grausamer Schmerz, der ein Stück aus ihrer wunden Seele brannte.
Ein Stück ihrer stillen Vergangenheit wortlos mit sich nahm. Längst war sie es gewohnt, dass man sich immer noch Witze über Juden erzählte und sie lachte mit, amüsierte sich über den naiven, verbalen Humor. Aber tiefer drang der Witz nicht zur ihr durch. Sie hatte in all den vielen Jahren ihrer Ehe gelernt, über die Sprüche ihres Mannes zu lachen und störte sich nicht an der Vergangenheit, die unter ihren müden Füßen schlum-merte. Sie hatte auch gar kein Interesse daran. Wollte erst recht nicht daran erinnert werden.
Niemals.
Doch das änderte sich schlagartig in dem kurzen Augenblick, als sie diese junge fremde Frau vor dem Geschäft entdeckte. Es war ihr Blick, den sie immer noch deutlich vor Augen hatte. Diese großen dunklen, traurigen Augen, die voller Vertrautheit in Margarete ein totales Entsetzen hervorriefen und sie in eine Art Ohnmacht tauchten, die alles erstarren ließ.
Das Taxi hielt vor einem riesigen Holztor, hinter dem sich ein stattliches Anwesen verbarg. Der freundliche Fahrer half der alten Dame noch beim Aussteigen und bedankte sich abermals für das großzügige Trinkgeld, das er sich in die Hosentasche steckte.
„Halt, warten Sie. Sie haben Ihre Tasche vergessen!“
Zu freundlich – dachte Margarete.
Sie spürte die Umrisse der Bilderrahmen in ihrer Hand. Schweigend nickte sie dem Fahrer zu und verschwand wortlos hinter dem gewaltigen Tor.
Da war sie wieder.
Diese unbeschreibliche Last.
Die sich heimlich in ihr Leben geschlichen hatte und sich nun in einer einfachen Einkaufstüte befand. Krampfhaft hielt Margarete von Weidmann diese Bürde mit beiden Händen fest. Es war zu spät, sie fortzuwerfen. Es war einfach zu spät, diese Last von sich zu streifen und der Vergangenheit abermals den Rücken zu kehren.

***

Was war nur geschehen?
Franziska empfand eine unbeschreibliche Leere, die sich langsam von den Füßen zum Bauchnabel hochzog. Sie hatte sich auf ihr breites Bett gelegt und wartete, ob er wenigstens anrufen würde. Doch nichts passierte.
Nichts.
Kein Anruf. Rein gar nichts.
Es war bereits einundzwanzig Uhr durch und die junge Frau starrte immer noch unablässig auf das knallrote Telefon, das neben dem Bett stand. Sie fror, aber sie war zu müde, sich die Decke hochzuziehen. Dabei wäre es nur ein Handgriff gewesen. Sie hasste Handgriffe. Schnell schloss sie ihre müden Augen, als sie die Feuchtigkeit im Augenwinkel spürte.
Salzwasser.
Sie schmeckte das Salz, als sich eine Perle auf ihren trockenen Lippen verirrte.
„Dieses Schwein, dieses erbärmliche Schwein.“
Mit einem Ruck stürzte sie sich auf das Telefon und riss mit aller Gewalt das Kabel aus der Wand. Eine kleine, unscheinbare und graue Staubwolke bedeckte die Fußleiste direkt vor ihr und entzog sich weiterer Aufmerksamkeit. Franziska fror immer noch, und immer noch weigerte sie sich, die weiche, warme Decke zu nehmen, die über ihrem Bett lag, um sich darin einzuhüllen. Was war nur geschehen?
Diese Frage dröhnte in ihrem Kopf und ließ einen stechenden Schmerz über ihr Gesicht ziehen, der sich irgendwann im Hin-terkopf vergrub. Es war eine Qual geworden, wenn ihre Fragen unbeantwortet blieben. Dabei hatte alles so schön angefangen.
Christian war ihr sofort aufgefallen, als sie die kleine Bibliothek betrat. Er hatte sich einen neuen Ausweis ausstellen lassen und wartete nun mit einem geduldigen Lächeln vor dieser Dame im bunten T-Shirt, deren rotlackierten Fingernägel blitzschnell über die Tastatur ihrer Schreibmaschine schwebten.
Auffallend war sein Lächeln.
Ja, Franziska erinnerte sich. Sein Lächeln zog sie magisch an, sodass sie nicht einmal ihren Blick von ihm lassen konnte, als er sich spontan zu ihr umdrehte. Für einen kurzen Moment hielt er inne, verzog die Stirn, als würde er nachdenken. Vielleicht dachte er tatsächlich nach. Darüber, ob sie ihm schon mal begegnet war, ob sie sich vielleicht sogar kannten – könnte ja schließlich sein. Dettelbach war eine kleine Stadt, ein freundlicher Gruß war auch für Fremde selbstverständlich. Bekannte Gesichter trafen sich auf dem Markt, unbekannte in den vielen kleinen Gassen.
Dieser Mann sah immer noch zu ihr herüber und sein Gesichtsausdruck veränderte sich erneut. Er begutachtete die Frau, die in verwaschenen Jeans und Turnschuhen am Ende der Bücherrückgabe stand, bevor er zaghaft die Mundwinkel wieder leicht nach oben zog.
Es war kein Lächeln mehr.
Ein sonderbarer Ausdruck lag auf seinem braungebrannten Gesicht, das sich nun wieder der rot lackierten Dame zuwandte. Von einem unangenehmen Gefühl begleitet, verkroch sich Franziska blitzschnell irgendwo hinter den Kinderbüchern im Erdgeschoss, um aus seiner Sichtweite zu verschwinden.
Sie schien Glück zu haben. Hinter den abgegriffenen Büchern von Mark Twain und Enid Blyton schnappte sie ein fröhliches Kinderlachen auf. Kinder – dachte die junge Frau für einen kurzen Augenblick und sah sich um. Franzsika war kinderlos geblieben, aber das störte sie nicht im Geringsten. Immerhin war sie jetzt einunddreißig Jahre alt und vor ihr lag eine Karriere als Hotelmanagerin, wenn sie nur den richtigen Schritt wagen würde. Noch zögerte sie.
Noch war sie nicht bereit, für ein oder zwei Jahre in die Staaten zu gehen, sich von ihren Freunden, von ihrer Umgebung und auch Heimat zu verabschieden. Das alles für eine ungewisse Zeit einfach zurücklassen. Vielleicht würde sie eine erfolgreiche Managerin und nicht mehr zurückkehren wollen. Amerika bot ihr viele Möglichkeiten, ein neues Leben aufzubauen. Nach all ihren Misserfolgen – und dabei musste sie automatisch an ihre Ehe denken – hatte sie sich einen Neustart verdient. Aber sie wollte sich jetzt nicht ihren hübschen Kopf damit zerbrechen, immerhin war sie noch jung und wollte sich auf keinen Fall wieder binden. Weder an eine Arbeitsstelle, noch an einen Mann.
Seltsam, welche Gedanken entstehen, wenn man durch Abenteuerbücher stöbert und glückliche Kinderstimmen hört …
Erschrocken klappte sie das Märchenbuch zu.

Es dauerte nicht lange und der fremde Mann hatte Franziska schließlich in der Medienecke gefunden. Sie bemerkte nicht einmal seine Blicke, die die ganze Zeit nach ihr gesuchten hatten und sie jetzt festhielten und nicht mehr losließen. Ganz vertieft wanderten ihre dunklen Augen über klangvolle Namen wie Mozart, Ravel und Tschaikowsky. Die meisten dieser Schallplatten hatte sie zu Hause.
„Sie mögen Tschaikowsky?“
Eine dunkle Stimme näherte sich ihr aus der Ferne.
Da war es wieder. Dieses Lächeln, das ihr fast schon vertraut vorkam.
„Entschuldigen Sie, aber ich werde einfach das Gefühl nicht los, dass wir uns kennen.“
„Unmöglich.“
Franziska legte die Schallplatte zurück und wollte gerade wieder fliehen, als sie die Hand des jungen Mannes spürte, der ihren Arm einfach gegriffen hatte und festhielt.
Erschrocken blickten beide auf.
Da war es.
Dieses seltsame Lächeln, das keines war.
Als könnte sie in seine Seele blicken, die weit ausgebreitet vor ihr lag. Sie musste sich nur die Mühe machen, sie zu berühren, sich vorsichtig ihr zu nähern.
„Mögen Sie auch seine Musik?“
Franziskas Frage war kaum hörbar, aber der Fremde nickte zustimmend.
„Ja, ich liebe sie.“
Sein Blick wanderte über ihr Gesicht.
„Ich auch“, hauchte sie mit einem sehr zaghaften Lächeln und senkte ihren Kopf.

Noch am gleichen Abend verabredeten sie sich in der kleinen Weinstube, ganz in der Nähe der alten Stadtmauer, obwohl Franziska nicht einmal den Alkohol in den Pralinen anrührte. Aber sie liebte diese besondere Atmosphäre hier, das herzhafte Lachen der Menschen, den seltsamen Geruch von warmen würzigem Holz, den es nur zu dieser Jahreszeit hier gab.

Sie hatten sich einen kleinen Tisch im Innenhof ausgesucht, der etwas abseits lag und von wo sie einen schönen Ausblick auf das Maintal hatten. Franziskas Apfelsaft perlte im Weinglas und mit jedem Schluck schien sie freier und gesprächiger zu werden.
„Bist du ganz sicher, dass da kein Alkohol drin ist?“
„Ganz sicher.“
Die junge Frau hob erneut das Glas und lächelte ihrem Gegenüber zu.
„Wie heißt du noch mal? Ich habe doch glatt deinen Namen wieder vergessen.“
Er konnte sich sein Schmunzeln nicht verkneifen, als er das leichte Funkeln in ihren Augen sah.
„Christian, einfach nur Christian. Meinst du, du kannst dir diesen Namen für die Zukunft merken?“
Zukunft?
Was für eine Zukunft?
Franziska nickte unbeholfen und zweifelte erneut, ob da wirklich kein Alkohol mit im Spiel war.
Christian war nett. Viel zu nett. Und außerdem sah er viel zu gut aus. Viel zu gut.
Christian war seit zwei Jahren von seiner Frau geschieden und lebte mit seiner Katze und einigen Flöhen nicht weit von hier. Dass er in Erlangen an der Universität als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig war, erwähnte er nur beiläufig, aber Franziska konnte ihre Überraschung nicht verbergen, als sie erfuhr, dass er sich ausgerechnet mit der Volkswirtschaft im Vorderen Orient und besonders mit den Judaismus beschäftigte. Nicht nur, dass er fließend der arabischen Sprache mächtig war. Er schob auch vereinzelnd ein paar Brocken Jiddisch mit in die Unterhaltung ein und entfachte mit seinen kleinen Geschichten ein unheimliches Feuer, das sich rasend schnell ausbreitete. Dieser Fremde erzählte von einer geheimnisvollen Welt, von seinen Vorfahren, die man heute als Aschkenasim bezeichnen würde. Das war die übliche Bezeichnung für mittel- und ost-europäische Juden, die nach dem jüdischen Aufstand in Jerusalem etwa 66 – 70 n. Chr. in Richtung Norden wanderten und im Laufe der Jahrhunderte nach Osteuropa kamen und sich hier eine neue Heimat aufbauten. Christians Wissen und seine Begeisterung sprudelten nur so aus ihm heraus und in Franziska hatte er eine aufmerksame Zuhörerin gefunden.
Juden.
Franzsika schüttelte den Kopf und strich sich das lange dunkelbraune Haar nervös aus dem Gesicht ...

Levitikus Erben Seite 7 ff

 


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